188 km von Altes Lager

188 km von Altes Lager (Brandenburg) nach Ummern (Niedersachsen)

Gutes Flugwetter ist angesagt für den 4. / 5. Juli 2001. Und wie fast immer bei brauchbarem Flugwetter, finden sich einige Flugenthusiasten unseres Drachen- und Gleitschirm-Fliegerclub Berlin/Brandenburg (DCB) zum Schleppbetrieb ein. Auch ich komme auf unser Vereinsgelände ‘Altes Lager’, einem ehemaligen russischem Militärflugplatz ca. 50 km südlich von Berlin. Am Mittwoch, dem 4. Juli macht der Aufzug von mittelhoher Stratusbewölkung schon kurz nach Mittag alle Streckenflugwünsche zunichte. Aber an diesem Donnerstag wird alles anders als sonst. Die ersten Cumuli bilden sich gegen zehn. Zur gleichen Zeit haben wir alles für den Windenschlepp notwendige aufgebaut. Dies ist erstaunlich, insbesondere wenn ich an die vorabendliche Lagerfeuerrunde denke, die sich bis ins Morgengrauen hinein zieht. Und so stehen Hagen Walter und ich als Erste am Start, nach dem Georg Weber uns beiden noch einige Thermikhinweise in Flugrichtung gegeben hat, fand doch mein bis dato weitester (motorloser) Streckenflug am Vortag über ca. 8 km bis kurz vor Blönsdorf statt. Der Wind weht mit noch erträglichen gut 10 ktn direkt aus Osten. Damit fällt mir die Entscheidung leichter, meinen Atlas S dem noch kleineren X-Act 19 von Marion, meiner Frau, vorzuziehen. Kurz vor halb elf starte ich unmittelbar nach Hagen, der es auf der Platz-Südseite versucht und fliege eine Cu nördlich des Platzes an, an der ich mich auf 850 m gnd hocharbeiten kann. Mit der Wolke über das als ‘Sauf-Senke’ gefürchtete Malterhausen driftend, halte ich nördlich vor und kann die dort schon gut entwickelte Wolkenstrasse erreichen. Dennoch gibt es für mich nur Höhen zwischen ca. 650 und 950 m gnd bis etwa Treuenbrietzen. Während dieser Zeit orientiere ich mich eher an den Schatten der Wolken als an den Wolken selbst. Wo werden sie dichter? Wo löchriger? Wo zerfallen sie schon? Obwohl ich sehr defensiv fliege und versuche, möglichst lange süd-östlich (luv- und sonnenseitig) unter den Wolken zu bleiben, verliere ich kurz vor der Querung der A9 den Aufwind. Zum Glück zeigen mir Schwalben an einer (leeseitigen!) Waldkante aber Thermik an und ich muss mich aus den verbliebenen 350 m Höhe nicht entscheiden, welches der naheliegenden Dörfer ich zur Aussenlandung anfliegen soll. Mit Erreichen der A9 scheine ich es auch vorerst geschafft zu haben. Es geht auf 1350 m und ein paar Wolkenfetzen um mich zeigen an, dass dies wohl die Basishöhe ist. Von hier aus kann ich ohne Höhenverlust über den Fläming ‘heizen’, was mein Schirm hergibt; ohne zu kreisen immer direkt unter der Wolkenstrasse und zum Teil bis gut 1600 m hoch. Die ED-R 73 umfliege ich ohne Umweg südlich. Mit dieser komfortablen Höhe fallen mir Georgs Worte von einer ‘Thermikfurt’ nördlich von Burg über die Elbe ein und halte nördlich auf eine Cumulus vor. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl dabei, von einer Wolke wegzufliegen und dann nichts weiter als hoffen zu können, die nächste zu erreichen. Und dabei quälend langsam zu sein. Aber ich erreiche den Aufwind in ca. 500 m gnd und arbeite mich wieder hoch. Jetzt ist aber Geduld angesagt. Ich lasse mich unter einer Wolke ganz langsam über die Elbe versetzten. Dabei habe ich viel Zeit, die Baustelle des Mittelland-Kanals, eine Brücke über die Elbe, zu bestaunen. Magdeburg liegt südlich im dunstigen Gegenlicht, die riesigen Kali-Abraumhalden von Zielitz direkt in Flugrichtung. Mehr als drei Stunden bin ich nun schon unterwegs und ich überlege, ob sich die ‘Hinterbliebenen’ schon beginnen, Sorgen zu machen. Aber telefonieren ist schwierig für mich, zumal die unruhige Luft auch nicht gerade einlädt, die Bremsen einhändig zu führen oder gar los zu lassen. Doch nun gilt es erst einmal, ausreichenden Abstand zum Sperrgebiet Colbitz-Letzlinger Heide zu gewinnen. In mehr als 1400 m fliege ich knapp südlich an der ED-R 74 vorbei. Wieder einmal haben mir leuchtend weisse Schmetterlinge in über 1000 m Höhe gezeigt, wo es thermisch langgeht. Denn selbst wenn ich ein stabiles Steigen habe, finde ich jedes Mal direkt bei den Insekten noch bessere Steigwerte. Von Süden her taucht der Mittellandkanal wieder auf. Dabei geht es über den feuchten Feldern des Naturparks Drömling nicht so richtig weiter. Ich entschliesse mich, unter grossflächige Abschattung einer zerfallenden Cumulus gen Südwesten vorzuhalten. Dabei hoffe ich auf Thermik über Oebisfelde, denn die Stadt liegt im prallen Sonnenlicht des frühen Nachmittags. Wieder dieser quälend langsame Schirm quer zum Wind, aber wenigstens muss ich nicht durch ‘Saufen’ fliegen. Mit dem Näherkommen suche ich mir auch schon eine Landewiese in der Nähe des Bahnhofes ­ Oebisfelde liegt als ehemaliger Grenzbahnhof direkt an der Neubaustrecke Berlin-Hannover. Wieder bleibt mir die Thermik-Fee treu. Bei nur 280 m Höhe entdecke ich einige Schwalben bei der Insektenjagd. Gleichzeitig merke ich, wie mein Schirm in die Thermik eintaucht. Ziemlich kräftig geht die Kappe dabei nach hinten und fast fahrstuhlartig geht es mit 5 m/s den wohl stärksten Bart des Tages auf 1200 m hoch. Wäre ich mit dem bisherigen Flug bereits mehr als zufrieden macht sich nun sogar leichte Euphorie breit, allerdings leicht gedämpft durch die erste Erschöpfung. Ich bin nun bereits fünf Stunden in der Luft, als ich versuche einem Bedürfnis zu verrichten. Kein leichtes Unterfangen, denn ich habe einen Frontcontainer vor mir. Zum Glück ist im Gleitflug zwischen zwei Wolken die Luft sehr ruhig. Und die Ruhe zwischen den nächsten Wolken nutze ich, um im akustischen Blindflug eine Ansage auf das DCB Info-Telefon zu sprechen ­ aus 950 m Höhe und südlich von mir die VW-Werke am nördlichen Stadtrand von Wolfsburg sehend. Die Schmetterlings-Thermikzeiger werden seltener, die Wolken stehen in größerem Abstand und sehen in Flugrichtung zunehmend fransig aus. Dafür tauchen nacheinander mehrere Segelflugzeuge mit östlichem Kurs auf. Meine thermischen Kreise, zusammen mit einem der Segler, finden bereits im navigatorischen Niemandsland statt. Meine mitgenommenen 1:200000- Kartenblätter sind bei Gifhorn zu Ende. Meine ‘Flugwut’ allerdings auch. Als ich schräg vor mir mitten im Wald einen kleinen Segelflugplatz entdecke, beschliesse ich, nicht den nächstgelegenen Ort namens Spechtshorn, wie mir später die Karte verrät, anzufliegen. Ich bereite bei 550 m gnd die Landung auf dem Segelflugplatz Ummern vor, wie mir ein weisser Schriftzug auf der Flugzeughalle sagt. Sichere Landezeugen, eine wahrscheinliche Rückfahrmöglichkeit und auch die Vorfreude, das Erlebte anderen Fliegern mitteilen zu können, mich dazu. Aber es ist eine Fehlentscheidung, wie sich herausstellt. Niemand ist auf dem Platz; die kurz zuvor gesehenen Segelflugzeuge kamen von wo anders. So stehe ich ohne Karte nach fast genau sieben Flugstunden um halb sechs mutterseelen allein auf einem abgelegenen Flugplatz in Niedersachsen. Es dauert nur ein paar Minuten und ich stehe, gestärkt durch die begeisterten Glückwünsche von Willy Kuck, an einer winzigen Strasse und hoffe auf eine gute Seele, die mich, egal in welche Richtung in den nächsten Ort mit nimmt. Und ich finde Sie in Form einer jungen Frau und anschliessend einem älteren Herrn. Dieser ist so begeistert, dass er spontan einen Umweg von 15 km fährt und mich direkt in Gifhorn am Bahnhof absetzt. Von hier ist es über Wolfsburg nach Berlin mit dem ICE nur ein Katzensprung von weniger als zwei Stunden. Während ich im voll-klimatisierten Zug sitze und den Tag Revue passieren lasse, erhalte ich auch Infos über die Strecken von Thomas Kuhlmann, der ganz in der Nähe von mir bei Brome gelandet ist (159km). Auch Georg und Hagen haben beachtliche Strecken an diesem Tag hingelegt. Und in Berlin holt mich sogar noch Mario Stielke ab, um mit mir mein Auto von Altes Lager zurückzuholen. Punkt Mitternacht bin ich nach diesem fantastisch-antrengendem Tag zu Hause in Hennigsdorf. Aber ich brauche wohl noch einige Tage, diesen Flug ganz zu begreifen.

Auf jeden Fall ein grosses Dankeschön:
– an Georg für das Mut machen, auf Strecke zu gehen, seine Thermikhinweise und den
Windenschlepp zu einem Zeitpunkt, wo wir in der Regel noch nicht einmal aufgebaut haben,
– an Mario, der mich, obwohl schon zu Hause, vom Bahnhof aus Berlin abgeholt und zum
Autorücktransport nach Altes Lager gefahren hat sowie die beiden lieben Menschen, die mich
mit meinem Gepäck mitgenommen und sogar Umwege für ein Dankeschön in Kauf genommen
haben,
– an Peter Schwarz von den Gifhorner Segelflieger, der meinen verloren gegangenen
Handschuh wieder gefunden und mir geschickt hat und
– an Willy für das Sponsoring von 100 Flaschen Landebier für den ersten Gleitiflug von AL über
mehr als 100 km. Das wird eine Fete am Lagerfeuer! Jörg Maaß